Die Untiefen menschlicher Nähe

Texte gegen Eingrenzung, gegen Ausgrenzung, für Grenzüberschreitung

Freitag, 29.04.2016, 19.30 Uhr, Synagoge Obernbreit

Schülerinnen und Schüler der Q11 des Gymnasiums Marktbreit setzten sich im Kunstunterricht mit dem Thema „Heimat“ auseinander. Dazu entstand eine Installation, die im Rahmen des Kreisheimattages am Sonntag offiziell in der ehemaligen Synagoge in Obernbreit eröffnet worden ist. Im Vorfeld dieser Ausstellung fand ein thematisch verwandter lyrischer Abend statt, der sich gewissermaßen mit einem Nebenast des Begriffsgeflechts „Heimat“ auseinandersetzte, nämlich verschiedenen Aspekten menschlichen Nähe.

Im Rahmen eines kurzweiligen lyrischen Abends mit Musik wurde ein vielsagender Bogen von schmerzlicher Anklage bis hin zu humorvoller Selbstkritik gespannt. Von historischen Zeitdokumenten über Bertolt Brecht ist vor allem Heinrich Heine zu Wort gekommen, zu Ohren vornehmlich Hits und Evergreens der 1920iger und 1930iger Jahre.

Menschen sind sich oft nur deshalb fremd, weil sie sich nicht kennen. Menschen, die sich sehr gut kennen, müssen gleichzeitig immer auf der Hut sein, sich nicht fremd zu werden. Derartige Untiefen menschlicher Beziehungen auslotend, spannte der Deutschkurs 1d2 des Gymnasiums Marktbreit einen ambitionierten roten Faden, der die verschiedenen Facetten von gleichzeitiger menschlich-emotionaler Nähe und Ferne von vielschichtigen Blickpunkten aus beleuchtete.

Der einleitende Textblock des Abends spiegelte einen Briefwechsel zwischen einer Schweizer Mädchenklasse, die sich darüber empörte, dass die Schweizer Regierung zunehmend ihre Grenzen schloss und so vielen verfolgten deutschen Bürgern mit jüdischen Wurzeln die Rettung vor dem Holocaust verweigerte. Überliefert ist der Antwortbrief eines hochrangigen eidgenössischen Politikers, der den Brief allerdings nie abgeschickt hat. Seine hilflose Argumentationskette, mit der er die Schweizer Außenpolitik rechtfertigt, erinnert in Teilen stark an die politische Debatte, die wir derzeit führen. Da ist von den beschränkten Aufnahmekapazitäten genauso die Rede wie von den enormen Kosten, die vorgeblich trotz der Pflicht zur Humanität nicht zu rechtfertigen zu sind.

Der zweite Text „Komm mit mir nach Georgia“ von Bertolt Brecht spiegelt in der Lesart der Schülerinnen und Schüler die überzogenen Erwartungen wider, mit denen sich heutzutage viele Flüchtlinge auf den Weg in die scheinbar gelobten Länder des Westens machen. Konterkariert wurde der Text von dem Jazzstandard „Georgia On My Mind“ aus den 1930iger Jahren, der im Gegensatz zu Brecht authentischen Heimatgefühlen Ausdruck verleiht, die so tief sind, dass das Verbleiben in Georgia gewissermaßen alternativlos erscheint.

Die Stücke, die die Lehrerband des Gymnasiums vortrug, unterstützte teilweise die Aussagen der vorgetragenen Texte oder, wie oben geschildert, sie widersprachen den Texten. Dieses Spannungsfeld aus Rede und Widerrede bzw. Rede und Bestätigung entwickelte sich bis zum Ende des Abends zu einem breiten, heterogenen Bild menschlicher Erwartungen, Irrungen und Wirrungen.

Das Gedicht „Die verkuppelten Worte“ von Bis Böttcher, brillant vorgetragen von Linus Stabenow, verdeutlichte den Zuhören der bis zum letzten Platz gefüllten Synagoge die Tücken der deutschen Sprache, die schon Muttersprachler aufmerken lässt und für Menschen mit Migrationshintergrund eine nur unter großen Mühen überwindbare Hürde darstellt. Gespiegelt wurde dieser Text an dem Song „Good Morning Heartache“ aus dem Jahr 1941, in dem der Sprecher sich dazu entschließt, die Probleme, die er nicht verdrängen kann, dann eben doch beherzt als solche anzunehmen.

Da, wo wir uns besonders nahe kommen, bei unseren Flirts, in unseren erotischen Bindungen und Lebensabschnittskonstellationen, beuteln uns widerstrebende Gefühlsgefälle. Wo zwei eine Beziehung eingehen, werden Dritte ausgegrenzt – wo zwei eine Beziehung eingehen, kann der Einzelne nur bestehen, wenn er sich auch eingrenzt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, funktioniert nur mit einem vernünftigen Grad an Selbsterhaltungsmechanismen, die man sich erhalten und bewahren muss. Immer wieder waren es die Gedichte von Heinrich Heine, die den Zuhörern nachdrücklich verdeutlichten, wie schnell etwas, das gerade noch zum Weinen gewesen ist, nach einem Perspektivenwechsel mit einem Mal auch zum Lachen sein kann. Besonders anschaulich wurde das im abschließenden Gedicht „Im Mai“, in dem sich der Sprecher selbst auf den Arm nimmt, wenn er schildert, wie gerne er seinem Selbstmitleid frönen würde, er aber vom aufbrechenden Frühling immer wieder aus seinem Betrübnis gerissen wird:

„Hier oben aber, wie grausamlich
Sonne und Rosen stechen sie mich!
Mich höhnt der Himmel, der bläulich und mailich –
O schöne Welt, du bist abscheulich!“

Welches Lied hätte den Abend stimmiger ausklingen lassen können als „Over the Rainbow“, seit 1938 ein Evergreen, wunderbar stimmig intoniert von Iris Ruppert, der die Sehnsucht nach romantischer Entgrenzung aus der allzu schnöden Alltagswelt, besingt.

Veranstalter des Abend war der Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Obernbreit e.V. Im Namen des Vereins bedankte sich Altbürgermeister Friedrich Heidecker für den kulturellen Hochgenuss, den die Oberstufenschülerinnen und -schüler mit ihren Lehrkräften der Marktgemeinde Obernbreit beschert hatten.

Friedhelm Klöhr